Büchners Reifezeugnis

Transkription:

Der bisherige Gymnasiast Carl Georg Büchner aus Goddlau, Sohn des Herrn Medicinalraths Büchner hierselbst, lutherischer Confession, hat 6 1/2 Jahre lang das hiesige Gymnasium besucht, welches er jetzt, 17 1/2 Jahre alt, von der ersten Ordnung in Selecta verläßt, um sich dem academischen Studium der Medicin zu widmen, zu welchem Endzweck ihm gegenwärtiges Zeugnis ausgestellt wird. Im Griechischen hat er sich gute Kenntnisse erworben und vermag bei gehöriger Vorbereitung mit Geläufigkeit zu übersetzen und lobenswerthe Arbeiten zu liefern. Im Erklären und Übersetzen der lateinischen Prosaiker zeigt er viele Gewandtheit, im Verstehen und Interpretieren der Dichter hinlänglichen Scharfsinn, der schriftliche Ausdruck im Lateinischen ist verständlich, ziemlich correct und fliessend und zuweilen bis zur Fülle des oratorischen Numerus gesteigert. Das Studium der italienischen Sprache hat er mit glücklichem Erfolg in der letzten Zeit betrieben. Vorzügliches Interesse bezeigte er für die teutschen Lectionen, in denen er sich theils durch einen verständigen mündlichen Vortrag, theils durch einzelne, von vorzüglicher Auffassungs- und Darstellungs-Gabe zeugende schriftliche Arbeiten auszeichnete. Den Religionsstunden hat er mit Aufmerksamkeit beigewohnt und in denselben manche treffliche Beweise von selbständigem Nachdenken gegeben. In der Archäologie hat er mehr als gewöhnliche Schulkenntnisse, besonders in der Geschichte der Bildhauerkunst.

In der Geschichte sind die Kenntnisse bedeutend. In der Mathematik war es wegen mangelnder Vorkenntnisse und kurzen Gesichts nicht möglich, mit den meisten Mitschülern gleichen Schritt zu halten, doch hat es am vielfachen Bestreben nicht gefehlt, noch manches nachzuholen. Bei guten Anlagen läßt sich auch in seinem künftigen Berufsstudium etwas Ausgezeichnetes von ihm erwarten, und von seinem klaren und durchdringenden Verstande hegen wir eine viel zu vortheilhafte Ansicht, als dass wir glauben könnten, er würde jemals durch Erschlaffung, Versäumnis oder voreilig absprechende Urtheile seinem eigenen Lebensglück im Wege stehen. Vielmehr berechtigt uns sein bisheriges Benehmen zu der Hoffnung, daß er nicht blos durch seinen Kopf sondern auch durch Herz und Gesinnung das Gute zu fördern, sich angelegentlichst bestreben werde.

Darmstadt am 30. Maerz 1831.
C. Dilthey,
Gymnasialdirector.


Georg Büchner hatte vermutlich bis zu seinem siebten Lebensjahr von seiner Mutter Caroline Büchner Elementarunterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen erhalten, bevor er vier Jahre lang (1821-1825) eine private Erziehungs- und Unterrichtsanstalt in Darmstadt besuchte. Von 1825 bis 1831 war er Schüler des Darmstädter Großherzoglichen Gymnasiums, auch „Pädagog“ genannt, dessen erfolgreicher Besuch mit einem Exemtionsschein nachgewiesen wurde.

Die Erteilung dieses Exemtionsschein wurde von Staatsminister Freiherr von Lehmann im Namen von Großherzog Ludwig in folgender Verordnung vom 20. September 1807 vorgeschrieben:

Jeder, der von den Landespädagogien oder Gymnasien zu Unserer Landesuniversität übertreten will, hat, ehe er daselbst aufgenommen werden kann, sich durch einen Exemtionsschein des Pädagogs oder Gymnasiums, woselbst er studiret hat, zu rechtfertigen. Es ist demnach jeder Studirende, der eine dieser Landesschulen verläßt, von dem Vorsteher derselben genau zu prüfen, ob er die zum Besuch der hohen Schule nöthigen Kenntnisse besitze oder nicht; im ersten Falle ist ihm der Exemtionsschein zu ertheilen, im andern Fall aber ist er zu längerem Besuch der Schule und mehrerer Befähigung anzuweisen.

Ritgen, Ferdinand von: Das Medicinalwesen des Grossherzogthums Hessen in seinen gesetzlichen Bestimmungen. Darmstadt: Leske 1840, S. 252.

In seiner Büchner-Biographie erwähnt der Literaturwissenschaftler Jan-Christoph Hauschild die landesherrliche Verordnung, dass „jedes Landeskind, das von den Landespädagogien oder Gymnasien zur Landesuniversität Gießen überging“ dort die ersten beiden Jahre des akademischen Studiums, ein sogenanntes „biennium academicum“ verbringen musste. Für diese Pflicht gab es allerdings eine Freistellungsklausel, die Georg Büchner durch seinen Vater Ernst Büchner am 5. September 1831 beim Innenministerium in Anspruch nahm. Das Gesuch zur Freistellung musste neben den Gründen für die Freistellung auch die gewünschte auswärtige Universität enthalten. Vier Tage später, am 9. September 1831, wurde Georg Büchner die Erlaubnis erteilt, außerhalb des Großherzogtums Hessen in Straßburg studieren zu dürfen.

Literaturverzeichnis:

Büchner-Portal: Schulbesuch in Darmstadt: http://buechnerportal.de/aufsaetze/schulbesuch-in-darmstadt (Stand: 15.09.2019)

Hauschild, Jan-Christoph: Georg Büchner: Biographie. Stuttgart: Metzler 1993, S. 120.

Hauschild, Jan Chistoph: Georg Büchner. – In: Ruckaberle, Axel: Metzler Lexikon Weltliteratur: Band 1: A – F. Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 214 – 218.

Ritgen, Ferdinand von: Das Medicinalwesen des Grossherzogthums Hessen in seinen gesetzlichen Bestimmungen. Darmstadt: Leske 1840, hier: 251 – 253.